Auszug aus meinem Buch "1001 Sieg"

Das Kapitel "Laut gedacht"


Als 15-Jähriger bin ich beim Kirschenpflücken vom Baum gefallen und seither querschnittgelähmt. Nach diesem Unfall ist für mich eine Welt
zusammengebrochen. Alle meine Ziele, meine Wünsche sind von einer Sekunde
auf die andere unrealistisch geworden. Ich hatte davon geträumt, als
Fussballer einmal in der Schweizer Nationalmannschaft zu spielen, und ich
hätte sehr gerne eine handwerkliche Berufsausbildung gemacht. Sie können
sich sicher selbst vorstellen, was man in diesem Alter alles möchte. Ich
hatte mir nie ein Leben im Rollstuhl vorgestellt; das tut wohl auch
niemand. Das kann man sich nicht vorstellen.
..Zuerst der Aufenthalt im Spital: 13 Wochen lang nur auf dem Rücken
liegen. Vielleicht tönt das jetzt für Sie etwas makaber, aber nach 13
Wochen nur liegen, habe ich mich auf den Rollstuhl gefreut. Ich wusste, das
ist die einzige Möglichkeit, die einzige Chance, die ich habe, um überhaupt
aus diesem Bett herauszukommen. Ich habe den Rollstuhl sofort akzeptiert.
Natürlich habe ich zu dieser Zeit gehofft, dass ich diesen Rollstuhl nicht
ewig brauchen würde. Ich bin damit genauso umgegangen wie Roman, als er ein
Mountainbike bekam. Er wollte es ausprobieren, wollte wissen, was mit
diesem Velo alles möglich ist. Ich darf gar nicht hinschauen, wenn er mit
Vollgas das Dorf hinunterfährt. Aber bei mir musste man auch immer
wegschauen, ich habe mich auch an meine Grenzen herangetastet. Die Grenzen
des Rollstuhls, ich meine jetzt auf das Material bezogen, habe ich mehrere
Male überschritten und fuhr schon während der Rehabilitationsphase mehrere
Rollstühle schrottreif.
..Aber auch die anderen Grenzen wollte ich kennen lernen. Ich musste mich
also generell ganz neu orientieren. Überall gab es Barrieren, weil ich nur
das sah, was ich alles wegen meiner Behinderung nicht mehr machen konnte.
..Es dauerte eine gewisse Zeit, bis ich mich davon lösen konnte, mich zu
bemitleiden, weil ich nicht mehr Fussball spielen konnte oder weil ich dies
und jenes nicht mehr konnte. Als 15-Jähriger hatte ich das ganze Leben noch
vor mir. Ich musste lernen, nach vorne zu schauen und nicht immer zurück.
Also habe ich einfach meine Rückspiegel eingeklappt. Das war zwar nicht
ganz so einfach, wie es sich heute anhört.
..Ich habe gelernt, dass im Leben das wichtig ist, was ich kann und nicht
das, was ich nicht kann. Ich habe mir neue Ziele gesetzt! Dank meinen
Erfolgen im Sport konnte ich vor allem mein Selbstwertgefühl steigern,
welches mir die Integration in die Gesellschaft stark erleichterte. Es
stimmt sicher, dass es am Anfang sehr wichtig für mich war, mich bestätigen
zu können oder zeigen zu können, dass ich auch zu etwas fähig bin. Heute
treibe ich Sport, weil es mir Spass macht und weil ich spüre, dass mir der
Sport gut tut. Und ich habe dabei nicht mehr das Gefühl, dass ich dauernd
anderen etwas beweisen muss.
..Erfolge von Behindertensportlern sind meiner Meinung nach generell auch
Signale und Zeichen, dass Behinderte in einem angepassten Umfeld
Spitzenleistungen erbringen können, und das nicht nur im Sport, sondern
auch in der Politik und in der Wirtschaft - dafür gibt es genügend
Beispiele. Als Schweizer dürfen wir auch etwas darauf stolz sein, dass das
erfolgreiche Abschneiden unserer Behindertensportler im weltweiten
Vergleich bestimmt auch auf ein gutes soziales Umfeld zurückzuführen ist.
..Ich weiss nicht, ob ich es ohne Sport so schnell geschafft hätte, meinen
Platz in der Gesellschaft wieder zu finden; zumindest wäre es sehr viel
schwieriger geworden. Ich hatte auch immer wieder das Glück,
Bekanntschaften mit tollen Personen zu machen, die mich ohne Wenn und Aber
sofort akzeptiert haben und mir halfen, mich nach meinem Unfall auf dem
richtigen Weg zu bewegen und in die Gesellschaft zu integrieren. Ich denke
dabei allen voran an meine Frau Doris. Wenn ich zurück denke an die Zeit,
bevor ich sie kennen gelernt hatte. Da hätte mich wohl der beste Trainer
nicht als talentierten Sportler entdeckt. Ich war Stammgast gleich in
mehreren Restaurants, wo ich nicht nur Pepsi getrunken habe. Ich rauchte
lange Zeit, und hatte sonst noch einige Laster. Fast alles hat sie mir
Schritt für Schritt abgewöhnt, eigentlich ohne dass ich es richtig
realisierte. Ich trinke heute wieder viel mehr Pepsi, rauche nicht mehr und
Laster ... habe ich auch nur noch ein paar.
..Mein Unfall war sicher ein sehr tragisches Ereignis. Man kann auch sagen,
es war ein Tiefpunkt in meinem Leben. Es hört sich vielleicht etwas seltsam
an, aber aus heutiger Sicht muss ich sagen, dass mein Unfall eigentlich gar
kein Unglück war. Durch meine Behinderung habe ich sehr viel Positives
erlebt und vieles in einem anderen Licht gesehen, andere Perspektiven
kennen gelernt.
..Anlässlich eines Vortrags in einer Schule fragte mich einmal ein Schüler:
Wenn mir eine gute Fee einen Wunsch erfüllen würde, ob ich mir wünschen
würde, nicht behindert zu sein? Wahrscheinlich denken Sie jetzt, dass ich
sofort ja gesagt habe. Klar, wenn ich wie durch ein Wunder von einer
Sekunde auf die andere wieder herumrennen könnte, wäre das wirklich
wunderbar. Aber wenn ich dafür auf all meine Erfahrungen, auf die schönen
Erlebnisse und auf die tollen Bekanntschaften, die ich als Behinderter
hatte, verzichten müsste, dann würde ich wohl der guten Fee sagen, sie
solle mir lieber einen Ferrari schenken.
..Ich habe meine Behinderung akzeptiert und bin heute davon überzeugt, dass
ich als Behinderter eine wichtige Funktion in der Gesellschaft habe. Mein
Leben hat zwar durch diesen Schicksalsschlag einen ganz anderen Verlauf
genommen, hat aber auch wieder einen neuen Sinn bekommen.
..Hätten Sie Freude an einem sonnigen, wolkenlosen Tag, wenn es niemals
Regen gäbe? Der Regen ist ebenso wichtig für uns und für die Natur wie die
Sonne; wir können auf keines von beidem verzichten. Ebenso denke ich,
braucht es Behinderte und Nichtbehinderte in unserer Gesellschaft. Es
braucht Arme und Reiche.
..Aber weshalb gibt es glückliche Arme und unglückliche Reiche? - So wie es
glückliche Arme und unglückliche Reiche gibt, so gibt es auch
nichtbehinderte Behinderte und behinderte Nichtbehinderte. Ich versuche das
an einem Beispiel etwas klarer zu machen.
..Ich vergleiche das Leben mit einem riesigen Schloss. Das Schloss des
Nichtbehinderten ist sehr schön und repräsentiert. Dasjenige des
Behinderten ist von aussen nicht so schön, der Verputz bröckelt schon etwas
ab und die Mauern haben einige Risse. Aber der Behinderte beginnt
instinktiv, sozusagen aus dem Kompensationstrieb heraus, sein Schloss viel
mehr zu erforschen als ein Nichtbehinderter und entdeckt hinter den vielen
Türen wertvolle Schätze, die vielen Nichtbehinderten für immer verborgen
bleiben, weil sie gar nicht auf die Idee kommen, ihr Schloss zu erforschen,
weil es ja gut aussieht und repräsentiert; was will man mehr.
..Ich kann mir darum gut vorstellen, dass ich ohne meine Behinderung gar
nicht das Bedürfnis gehabt hätte, mein Leben so aktiv zu gestalten. Ich
weiss nicht, ob ich auch so viel in der Welt herumgereist wäre und so viele
schöne Erlebnisse gehabt hätte. Ich darf also ruhig behaupten, dass ich ein
nichtbehinderter Behinderter bin.
..Sie kennen das Beispiel mit dem Fussgängerstreifen. Erst wenn ein Kind
angefahren oder sogar überfahren wird, überlegt man sich, ob eine Ampel
nötig sei. Leider ist es so. Immer muss zuerst etwas Einschneidendes
passieren, bis etwas unternommen wird.
..Ich würde mich freuen, wenn meine Einstellung und meine Gedanken für
andere Leute Motivation und Anstoss sind, ihr Leben auch aktiver zu
gestalten.




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